Im gesamten westlichen Kulturkreis ist unübersehbar ein politischer und gesellschaftlicher Wandel zu erkennen, von einem ausgewogenen oder eher links-progressiv Kurs hin zu einem rechts-konservativen. Nicht nur, aber durchaus besonders in Deutschland wird diese Entwicklung einerseits mit großer Sorge betrachtet, andererseits scheint sie für viele Menschen berechtigt und notwendig zu sein. Sorgen bereitet das Erstarken rechts-konservativer Strömungen wohl vor allem deshalb, weil damit eine Bewegung in rechts-radikale Gefilde assoziiert wird, die historisch durchaus problematisch ist und sich auch stellenweise abzeichnet.
Wie sollen wir gesellschaftlich mit dem evidenten Rechstruck umgehen?
Zunächst IST ein nicht geringer Teil der Bevölkerung Teil dieser Bewegung und ihre politischen Auswüchse sind nur Konsequenzen einer gesamtgesellschaftlichen Umorientierung. Abgesehen von den Menschen, die Teil dieser Rechtsbewegung sind, herrscht bisher vielerorts die Meinung vor, dass dieser Rechtsruck an sich als gefährlich betrachtet und mit allen Mitteln verhindert werden müsse. Gerade eine solche recht hysterische und extreme Reaktion sorgt aber möglicherweise dafür, dass eine mögliche moderate und vernünftige Rechtsbewegung tatsächlich ins Rechtsradikale abdriftet. Eine rein politische Betrachtung der Ereignisse scheint mir hier, wie so oft, viel zu begrenzt zu sein, um dieses gesamtgesellschaftliche Phänomen erschöpfend bewerten und auf dieses adäquat reagieren zu können.
Wir sind eindeutig „zu weit“ nach links-progressiv abgedriftet
Eine gesellschaftliche Bewegung in Richtung konservativ-traditionell ist heute im westlichen Kulturraum dringend nötig. Nicht, weil diese Richtung generell richtig wäre, oder für ein funktionierendes Gesellschaftsleben uneingeschränkt beibehalten und berücksichtigt werden sollte, sondern, weil (bisherige) menschliche Gesellschaften eine gewisse Balance zwischen konservativen und progressiven Strömungen brauchen. Gleichzeitig wurde ein solch dynamisches Gleichgewicht bei uns im „Westen“ heute in Richtung links-progressiv schon längst weit überschritten:
Traditionelle (westliche) Werte und Normen wurden immer mehr in Frage gestellt, abgeschafft und gelten als überholt, inhuman und destruktiv. Es wurden dabei keinerlei neue oder progressive Werte und Normen formuliert oder etabliert, außer wirklichkeitsfremden Forderungen und Ansichten, die letztlich nur beinhalten, dass es eben keine Normen und Werte oder entschiedene Maßnahmen zu deren Einhaltung und Beachtung mehr gibt und geben darf.
Konservative Autorität an sich wurde in Gesellschaft, Erziehung und Politik zumindest scheinbar abgeschafft und negiert. Allein zu dem Zweck, zunehmend eine antiautoritäre Sichtweise und Praxis durchzusetzen, für deren Validität und konstruktive Wirkung keinerlei wissenschaftliche oder real erkennbare Hinweise existieren, die sich aber in Theorie leider anscheinend sehr gut anhört und anfühlt.
Die westliche Kultur als solche wurde (von uns selbst!) generell dämonisiert und dekonstruiert, sodass im Grunde jede andere, als die westliche Kultur, oder aber weltfremde Utopien, als erhabener und erstrebenswerter gelten. Traditionelle Werte und gesellschaftliche Zwänge sind fast vollständig einer Forderung nach immer mehr Freiheit, emotionaler Steuerung und Selbstbestimmung jedes Einzelnen gewichen, ohne jede erkennbare Struktur, innere oder äußere Logik.
Der Ausdruck „traditionelle Werte“ stellt hierbei generell eine Tautologie dar. Werte und Normen sind immer traditionell, da sie unausweichlich aus einer traditionell überlieferten Lebenspraxis hervorgehen. Sie kommen aus Erfahrungen von uns und mit uns Menschen und unserem gelebten Gemeinschaftsleben, die folgerichtig nur aus der Vergangenheit kommen können. Menschliche oder traditionelle Normen und Werte sind dabei in allen Kulturen in ihren jeweiligen Entwicklungsstufen naherzu identisch und dabei nicht perfekt und selbst Hindernisse auf dem Weg in eine ideales Menschenleben, aber sie sind wesentlich effektiver und angemessener für den Umgang von unser bisher unterentwickelten Menschen mit uns selbst, als jede bisher erdachte Alternative. Denn sie sind ein bewusstes oder unterbewusstes Destillat der Lebenserfahrung vieler Generationen von Menschen.
Progressive oder humanistische Werte und Normen, die ebenso umsetzbar wären wie „traditionelle“, konnten bisher niemals erdacht oder etabliert werden, da sie von einem zu optimistischen, eben humanistischen Menschenbild ausgehen, dass bisher (!) nicht mit unserem wirklichen Geisteszustand übereinstimmt. Man geht hier offensichtlich von einem „Neuen Menschen“ aus, der völlig zurfrieden und völlig vernünftig ist, den es bisher aber nicht gibt, und von dem ich denke, dass wir genauso werden können, aber nur durch eine erhebliche, schmerzhafte und tiefgreifende psychische Weiterentwicklung, die wir so lange nicht planenn, angehen und umsetzen werden, wie wir uns selbst einreden und einbilden, bereits (fast) solch Neue Menschen zu sein.
Die grundlegende Conditio Humana
Der Mensch befindet sich seit Menschengedenken in einem psychosozialen Zwischenzustand, Schisma und Spannungsfeld. Zum einen hat er bereits teilweise die Fähigkeit, selbstständig frei und vernünftig zu entscheiden. Andererseits ist er immer zu großen Teilen und in wichtigen Bereichen noch so unkontrolliert und neurotisch, dass er eine nicht zu unterschätzende äußere Führung braucht. Um uns Menschen ein real umsetzbares, einigermaßen funktionierendes Leben zu ermöglichen, brauchen wir deshalb gesellschaftlich ein gewisses Gleichgewicht zwischen traditionell-autoritär-kollektivistischen und progressiv-antiautoritär-individualistischen Elementen, dias diese äußere Führung in ausreichender Form bieten und außerdem in einen angemessenen, beschränkten Rahmen auch persönliche Freiheit.
Im Humanismus, der unausweichlichen Ultima Ratio der menschlichen Geistesgeschichte, gilt, dass jeder Mensch seinen eigenen Verstand benutzen kann und muss, um im Leben richtige, vernünftige und altruistische Entscheidungen treffen und Handlungen auszuführen zu können und, dass wir Gesellschaftssysteme erschaffen müssen, in denen dies maximal möglich ist. Autoritäre Systeme verhindern und unterdrücken genau dies logisherweise und werden deshalb dämonisiert.
In jeder Hochkultur entstehen und entstanden deshalb humanistische Strömungen, die immer verlang(t)en, dass der Einzelmensch sich in größerem Umfang selbstbestimmen kann und darf und weniger durch traditionelle Werte, Normen, Hierarchien und dementsprechende Gesetze und Regeln fremdbestimmt werden soll.
Das Problem dabei ist aber, dass wir zu einer solch völligen oder auch nur überwiegenden Selbstbestimmung bisher (noch) letztliche vollkommen unfähig sind. Obwohl wir uns in verhängisvoller Weise bereits jetzt weitestgehend einbilden, dass dem so wäre.
Mehr bürgerliche Freiheit und Selbstbestimmung ist in einem gewissen Rahmen sinnvoll und hat auch historisch positive Auswirkungen (gehabt). Genau diese führen aber, da sie emotional natürlich eindeutig richtig erscheinen, in einer kontinuierlichen Erweiterung unausweichlich irgendwann immer „zu weit“, sodass eine zu große und umfassende Selbstbestimmung sich destruktiv auswirkt, weil wir sie nicht durch eigenständige Vernunft bewältigen und ausfüllen können. Wir Menschen sind bisher leider unfähig unter solch überwiegend libertären Umständen einigermaßen vernünftig zu sein und zu leben.
Es ist es an diesem Punkt der Kulturentwicklung, an dem wir uns heute einmal mehr befinden, notwendig, dass eine konservativ-traditionelle Gegenbewegung stattfindet.
Leider ist eine solche nur schwer in einer vernüftigen und moderaten Form möglich, vor allem nicht unter den antiautoritär-progressiven Verhältnissen, die auf einer (post-) modernen Kulturstufe nun einmal etabliert sind und als selbstverständlich empfunden werden. Ein modernes, freiheitliches Leben ist für alle Beteiligten angenehmer und scheint emotional erstrebenswerter zu sein, weshalb wir diese Freiheit und Selbstbestimmung und unseren damit verbundenen Individualismus nicht freiwillig aufgeben wollen. Ein Wiedereinführen verbindlicher und realistischer Normen und Werte ist in einer solchen, postmodernen Gesellschaft, wenn überhaupt, nur schwerlich möglich, weil sie berechtigterweise einer Mehrheit nur der vor allem als schmerzhaft, rückschrittlich, unattraktiv und antihumanistisch erscheinen und gelten
Was geschehen muss
Es bedarf heute unbedingt einer gesamtgesellschaftlichen Diskussion und Entscheidungsfindung, an der sowohl rechts-konservative, als auch links-progressive Stimmen beteiligt sein müssen. Dazu werden wir eine heute völlig überreizte und emotionalisierte Diskussionskultur verlassen und zu einer konstruktiven und logischen Streitkultur (zurück)finden müssen.
Gerade die Stimmen und Verteter der leider zur Zeit besonders links-progressiven Gesellschaftswissenschaften werden in dieser Entscheidungsfindung eine entscheidende Rolle spielen müssen. Um dies zu erreichen, müssen sie aber unbedingt ihre heute viel zu subjektivistischen, extremhumanistischen, „links-progressiven“ und idealistischen Einstellungen aufgeben und (wieder) zu realistischen und entschiedenen Einschätzungen, Theorien und Bewegungen finden müssen.
Den Rechts-konservativen wird, um diesen heute unbedingt nötigen Diskurs zu ermöglichen, die ihrerseits schwere Aufgabe zukommen, ihre Ansichten zwar vermehrt durchsetzen zu können, aber sich dabei selbst zu zügeln und dafür Sorge zu tragen, dass diese Bewegung nicht von rechtsradikalen oder faschistischen Elementen vereinnahmt werden oder in diese abdriften. Dies wird nur möglich sein, wenn die links-progressiven Kräfte aufhören, jegliche rechts-konservative Bewegung als rechts-radikal zu verunglimpfen, und die Rechts-konservativen sich klar von rechtsradikalen Elementen und Ansichten distanzieren und abgrenzen.
Die Links-progressiven stehen dabei vor einer wohl noch größeren Aufgabe, da sie ihre Ansichten und bisherigen Erfolge teilweise in Frage stellen, aufgeben und zurückfahren müss(t)en. Sie müssen anerkennen, dass sie sich selbst zu sehr radikalisiert haben. Dass sie ihre, meist im Kern durchaus richtigen Forderungen nach Gleichheit und Freiheit in unseren westlichen Gesellschaften heute bereits zu großen Teilen durchgesetzt haben und verwirklicht sehen müssten, und es dabei aber in ihrem Drängen zu weit getrieben haben und fälschlicherweise noch weiter treiben wollen. Sie müssen einsehen, dass unsere heutige Gesellschaft bereits – ganz nach ihren Vorstellungen – bereits große progressive Erfolge erzielt hat und bereits sehr weit links steht, auch wenn ihre angestrebte, ideale und völlige Gleichheit und Freiheitlichkeit noch nicht erreicht wurden, weil wir sie als die Menschen, die wir bisher sind, eben nicht erreichen und umsetzen können..
Das heißt, dass die Links-progressiven das, was sie sich selbst zusprechen und von anderen verlangen, selbst umsetzen müssen: Alle und nicht nur ihre eigenen Ansichten anzuerkennen und im vernünftigen und realistischen Konsens miteinander zu vereinigen. Dabei können sie nicht weiterhin ignorant gegensätzliche, rechts-konservative Ansichten verteufeln und den rationalen Austuasch mit diesen verweigern. Sie müssen mit einem aus ihrer Sichtweise und auch wirklich heute noch suboptimalen gesellschaftlichen Zustand zufrieden sein. Sie müssen sich von der Allmacht und Absolutheit vieler ihrer grundlegenden Überzeugungen verabschieden: „Alle müssen gleich sein. Absolute Gleichberechtigung und völlige individuelle Freiheit müssen u nd können existieren. Zwang, Gewalt und Fremdbestimmung im menchlichen Leben sind per se falsch und destruktiv.“
Nur eine Geistige Revolution wird hilfreich sein
Ich bin der Meinung, dass, unter anderem, eine solche, zielführende und rationale Diskussion vor allem durch die Vorstellung und die Grundideen der „Geistigen Revolution“ ermöglicht werden kann:
Ja, der Humanismus ist richtig und kann nur das Ziel unserer Entwicklung sein, aber: Dies ist jetzt und mit „uns“ noch nicht umsetzbar, sondern benötigt einen Neuen Menschen. Diese zu werden muss der Fokus unserer Selbstkritik und Anstrengungen sein, und nicht fruchtlose Kleinkriege und gegenseitige Verurteilung und Pathologiserung.
Ich glaube, dass wir wirklich irgendwann ein besseres Leben mit neuen, progressiven und wirklich humanistischen Werten, Normen und Lebensumständen erzeugen, genießne und umsetzen können und müssen. ABER: Dazu müssen wir eben VORHER als Einzelmenschen selbst eine erhebliche Weiterentwicklung beginnen, durchmachen und erreichen, die uns zu genau den vernunftbegabten Menschen macht, für die uns die Humanisten (und auch wir selbst uns oft) fälschlicherweise schon heute halten. Dies wir meiner mehr oder weniger bescheidenen Meinung nach aber nicht ohne eine Geistige Revolution und eine damit verbundene, entscheidende psychische Weiterentwicklung aller Menschen möglich sein.
Fast alle Diskussionen gehen heute und seit Menschengedenken leider völlig an dieser philosophisch-psychologischen Kernfrage und Problemstellung vorbei und können deshalb gar nicht mehr erzeugen, als eine weitere, bereits jetzt besorgniserregende Spaltung, Verarmung, Selbstaufgabe und Schwächung des westlichen Kulturkreises, aus dem sie und wir erst hervorgegangen sind.
Liebe Leser, genauso wie an einer Verbreitung meiner Gedanken, bin ich interessiert an jeder logischen Kritik an diesen Ideen. Es würde mich sehr freuen, diese Gedanken in Diskussionen, Vorträgen und weiteren Publikationen so vielen Menschen wie möglich zu vermitteln. Gern können wir in Kontakt kommen.